Weihnachtsgeschichte: "In Shanghai" von Joe Lederer (1964)

Zum Weihnachtsfest möchte ich eine Kurzgeschichte von Joe Lederer vorstellen: "In Shanghai" aus dem Buch "Von der Freundlichkeit der Menschen"

"Einmal habe ich eine Zeitlang in China gelebt. Ich war im Frühling in Shanghai angekommen und die Hitze war mörderisch. Die Kanäle stanken zum  Himmel, und immer war da der ranzige, üble Geruch von Sojabohnenöl in der Luft. Ich konnte  und konnte mich nicht eingewöhnen. -

Neben den Wolkenkratzern lagen Lehmhütten, vor denen nackte Kinder im Schmutz spielten. Nachts zirpten die Zikaden im Garten und ließen mich nicht schlafen. Im Herbst kam der Taifun, und der Regen stand wie eine gläserne Wand vor den Fenstern. Ich hatte Heimweh nach Europa.-

Da war niemand, mit dem ich befreundet war und der sich darum kümmerte, wie mir zumute war. Ich kam mir ganz verloren vor in diesem Meer von fremden Gesichtern. Dann kam Weihnachten.

Ich wohnte bei Europäern, die chinesische Diener hatten. Der oberste von ihnen war der Koch Ta-tse-fu, der grosse Herr der Küche. Er redete gebrochen deutsch und war der Dolmetscher zwischen mir und dem Zimmer-Kuli, dem Ofen-Kuli, dem Wäsche-Kuli und was es sonst noch an Dienerschaft im Hause gab.

Heiliger Abend - und ich saß wieder einmal verheult in meinem Zimmer. Da überbrachte mir Ta-tse-Fu ein Geschnek. Es war eine chinesische Kupfermünze mit einem Loch in der Mitte, und durch das Loch waren viele bunte Wollfäden gezogen und dann zu einem Zopf zusammen geflochten. "Eine sehr alte Münze", sagte der Koch feierlich, "und die Wollfäden gehören auch Dir. Die Wollfäden sind von mir und meiner Frau, vom Zimmer-Kuli und seiner Schwester, von den Eltern und dem Bruder des Ofen-Kuli - von uns allen sind die Wollfäden."

Ich bedankte mich sehr. Es war ein merkwürdiges Geschenk - und noch merkwürdiger, als ich zuerst dachte. Denn als ich die Münze mit ihrem bunten Zopf einem Bekannten zeigte, der seit vielen Jahren in China lebte, erklärte er mir, was es damit für eine Bewandtnis hätte.

Jeder Wollfaden war eine Stunde des Glücks. Der Koch war zu seinen Freunden gegangen und hatte sie gefragt: "Willst Du von dem Glück, das Dir für Dein Leben bestimmt ist eine Stunde des Glücks abtreten?" Der Ofen-Kuli und Zimmer-Kuli und Wäsche-Kuli und ihre Verwandten hatten für mich, die fremde Europäerin, einen Wollfden gegeben als Zeichen, dass sie mir von ihrem eigenen Glück eine Stunde des Glücks schenkten. Es war ein grosses Opfer, das sie brachten: Denn wenn sie auch bereit waren, auf eine Stunde ihres Glücks zu meinen Gunsten zu verzichten - es lag nicht in ihrer Macht zu bestimmen, welche Stunde aus ihrem Leben es sein würde. Das Schicksal würde entscheiden, ob sie die Stunde abtraten, in der ihnen ein reicher Verwandter sein Hab und Gut verschrieben hatte, oder ob es nur eine der vielen Stunden sein würde, in der sie glücklich beim Reiswein saßen; oder ob sie die Glücksstunde wegschenkten, in der das Auto, das sie sonst überfahren hätte, noch rechtzeitig bremste, oder die Stunde, in der das junge Mädchen vermählt worden wäre. Blindlings und doch mit weit offenen Augen machten sie mir - der Fremden - einen Teil ihres Lebens zum Geschenk.

Na ja die Chinesen sind abergläubisch. Aber ich hatte nie wieder ein Weihnachtsgeschenk bekommen, das sich mit diesem hatte vergleichen lassen. Von diesem Tag an habe ich mich in  China zu Hause gefühlt. Und die Münze mit dem bunten Wollzopf hat mich jahrelang begleitet. Ich habe sie nicht mehr.

Eines Tages lernte ich jemanden kennen, der war  noch übler dran als ich damals in Shangahi. Und so habe ich einen Wollfaden genommen, ihn zu den anderen Wollfäden dazugeknüpft - und habe die Münze weitergegeben."

Joe Lederer 1904-1987 österreichische jüdische Schriftstellerin, lebte 1934 in Shanghai, nach dem ihre Bücher von den Nationalsozialisten verboten worden waren.

Titel: Kurzgeschichten - Ullstein Verlag Frankfurt 1991 ISBN: 3-548-22625-6 Nach druck der Ausgabe von 1964